Drei Monate nach dem G20-Gipfel in Hamburg haben sich über 600 Wissenschaftler/innen, Politiker/innen sowie Kulturschaffende in einem offenen Brief an den Hamburger Senat gewandt und die Missachtung von Grundrechten während der Gipfelproteste scharf kritisiert. In dem Brief werden Olaf Scholz und die Polizeiführung für ihre „autoritäre und undemokratische Haltung“ im Umgang mit Protesten und Medien gerügt: „Das Vorgehen von Polizei und Verwaltung zum Gipfel passt in das Bild einer schleichenden Autoritarisierung des politischen Systems – in einem demokratischen Rechtsstaat ist es ein Skandal.“ Die zahlreichen seit dem Gipfel bekannt gewordenen Übergriffe durch Beamte und deren fehlende oder unzureichende Aufarbeitung müssen Konsequenzen haben. Die einem Rechtsstaat nicht gebührende Forderung von Regierungsmitgliedern „nach sehr hohen Strafen“ für G20-Gegner/innen hat bereits zu politischen motivierten außergewöhnlich hohen Strafurteilen durch Richter/innen geführt. Die harsche Ablehnung der Proteste seitens der Politik und Medien war zu erwarten, dennoch fand eine den offenbaren Tatsachen widersprechende Verleugnung und Legitimierung der manifesten wie der strukturellen Polizeigewalt statt, analysiert auch der Vorstand des Institut Solidarische Moderne in seinen aktuellen Thesen.
Die Unterzeichnenden fordern die Verantwortlichen in Politik und Medien dazu auf: „Die Polizeigewalt und die Hinwegsetzung von Polizei und Senat über Gerichtsurteile darf nicht folgenlos bleiben. Die Kriminalisierung und Diffamierung linker Institutionen und Strukturen muss aufhören.“ Ein Beispiel dafür ist das jüngst durch das Innenministerium geschlossene Nachrichtenportal Indymedia. Von weiteren Repressionsmaßnahmen ist auszugehen.
Zu den Unterzeichnenden des offenen Briefes zählen neben zahlreichen Professorinnen und Professoren auch Politiker/innen der Linken und Grünen. Weiter haben Attac Deutschland, das Institut Solidarische Moderne e.V., der Studierendenverband Die Linke.SDS und der Hamburger Kulturverein Gängeviertel e.V. unterzeichnet.“ Der Brief wurde heute an den Hamburger Senat verschickt und ist auf der Homepage offener-brief-g20.org zu finden.
An den Hamburger Senat
Senatskanzlei
zu Händen von Olaf Scholz, Bürgermeister
Senatsverwaltung für Inneres und Sport
Zu Händen von:
Andy Grote, Senator für Inneres und Sport
Bernd Krösser, Staatsrat für Inneres
Sehr geehrter Olaf Scholz,
sehr geehrter Andy Grote,
sehr geehrter Bernd Krösser,
den nachfolgenden offenen Brief schicken wir Ihnen hiermit zur Kenntnis. Dieser wurde von über 700 zivilgesellschaftliche Organisationen, Wissenschaftler/innen, Politiker/innen sowie Kulturschaffenden unterzeichnet, um sich gegen die Missachtung von Grundrechten im Kontext der Gipfelproteste zu wenden.
Mit freundlichen Grüßen,
Initiative Grundrechte verteidigen (offenerbriefg20@mail.de)
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Reaktionen und Berichterstattung der letzten Wochen rund um den G20-Gipfel erfüllen uns mit großer Sorge, um den Zustand von Demokratie und Grundrechten. Während Autoritarismus und undemokratische Tendenzen in anderen Ländern, wie jüngst in der Türkei oder in den USA, zu Recht verurteilt werden, werden ähnliche Entwicklungen hierzulande wegen Ausschreitungen und brennender Autos während des G20-Gipfels in Hamburg als gerechtfertigt angesehen.
Bereits im Vorfeld der Proteste wurde durch das Verbot der Protestcamps deutlich, dass jede Form des Protests schon im Keim erstickt werden sollte. Die polizeiliche Räumung eines höchstrichterlich genehmigten Camps war eines der Zeichen dafür, wie demokratische Grundwerte und rechtsstaatliche Verhältnisse in den folgenden Tagen systematisch missachtet werden sollten. Weitere Beispiele sind, dass die “Welcome to Hell”-Demonstration am Donnerstag bereits nach ca. 100 m – unter einem Vorwand – von der Polizei angegriffen und eine Massenpanik ausgelöst wurde. Eine ähnliche Missachtung gegenüber demokratischen Grundrechten und die – gegen autoritäre Staaten sonst gern so hochgehaltene – Pressefreiheit zeigte auch Hamburgs regierender Bürgermeister Scholz als er am 9.7.2017 vor Journalist_innen verkündete: “Ich will ausdrücklich sagen, dass ich nicht verstehen kann, wenn jetzt oder in den nächsten Tagen die wirklich heldenhafte Tätigkeit der Polizei kritisiert wird.“ Doch dabei blieb es nicht und trotz zahlreicher anderslautender Belege, behauptete er am 13.7.2017 gegenüber der dpa: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise“. Diese Form der postfaktischen Politik erweckt zudem den Eindruck, dass der Bürgermeister es mit der Gewaltenteilung und mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht so genau nimmt. Weiterhin wurde am Freitag, den 7.7.2017 über 30 Pressevertreter_innen kurzfristig ihre Akkreditierung entzogen. Zahlreiche Journalist_innen berichten von Beleidigungen, Schlägen und Einschüchterungen, die sie durch Polizeikräfte erfahren hätten. Das passt in das Bild einer schleichenden Autoritarisierung des politischen Systems – in einem demokratischen Rechtsstaat ist es ein Skandal.
Rücktrittsforderungen gegenüber Scholz werden hingegen nur erhoben, weil er die „öffentliche Ordnung“ nicht aufrechterhalten habe. In einem solchen Diskurs ist die massive Polizeigewalt, die Inkaufnahme von Massenpaniken, die gezielte Eskalation zahlreicher Situationen und die Einschüchterung von Journalist_innen kaum noch ein Thema. Nach der Konfrontation mit einer offensichtlich außer Kontrolle geratenen Staatsgewalt sind wir schockiert über den Hass und die tendenziöse Darstellung der Ereignisse vonseiten der Politik und zahlreicher Leitmedien. So finden sich Reaktionen in der Presse, die in den Ereignissen des Wochenendes „bürgerkriegsähnliche Zustände“ (z.B. Stephan Mayer, CSU) oder eine „bisher nicht gekannten Orgie der Zerstörung“ (FAZ) sehen wollten. Eine Reihe von in der Sternschanze ansässigen Betrieben veröffentlichte derweil ein Statement, in dem sie die übertriebenen Schilderungen der Ausschreitungen durch die Presse zurückwiesen. Nur wenige Medienschaffende machen sich hingegen die Mühe die Ursache der Krawalle und deren Komplexität darzustellen. So unterscheiden sich die Akteur_innen sowohl in ihrer Motivation, als auch den sozialen Hintergründen und während die soziale Frage anderswo, etwa bei den Riots 2011 in London, klar benannt wurde, herrscht hierzulande Schweigen darüber. Wer die Auseinandersetzungen in Hamburg entpolitisiert und sie nicht im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Situation sieht, der kann sie weder verstehen, noch sollte er eine vorschnelle Bewertung vornehmen.
Wenn brennende Flüchtlingsheime und Morde an Migrant_innen mit kaputten Fensterscheiben und brennenden Autos gleichgesetzt werden, dann zeigt das eine gefährliche Indifferenz gegenüber der Wirklichkeit. Wir weisen derartige Vergleiche und autoritäre Tendenzen in demokratischen Parteien, die schon allein aufgrund ihrer eigenen Geschichte vor solchen Gleichsetzungen zurückschrecken sollten, entschieden zurück. Wenn 40 Millionen Euro als Entschädigung für abgebrannte Autos oder Umsatzeinbußen bezahlt werden, während den Opfern des NSU und deren Angehörigen bei 10 Morden insgesamt 832.000 Euro gezahlt werden, dann entblößt dies die herrschende Politik, in der Eigentum offenbar höher bewertet wird als ein Menschenleben.
Wir fordern die Verantwortlichen in Politik und Medien dazu auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden und personelle wie politische Konsequenzen aus dem Scheitern der Sicherheitsstrategie bei G20-Gipfel zu ziehen – anstatt Demokratie und Grundrechte auf dem Altar konservativer Beißreflexe und innerer Sicherheit zu opfern. Die Polizeigewalt und die Hinwegsetzung von Polizei und Senat über Gerichtsurteile darf nicht folgenlos bleiben. Die Kriminalisierung und Diffamierung linker Institutionen und Strukturen muss aufhören. Hierbei handelt es sich um eine Strategie, die vom Versagen der eigenen Institutionen und der massiven Polizeigewalt ablenken soll. Was diese Welt und diese Gesellschaft nötig hat ist Kritik und keine pauschale Kriminalisierung von Protest. Wer diese delegitimiert und diffamiert, zerstört, wovon Demokratie lebt.
Die Liste der Unterzeichner/innen finden Sie im angehängten Dokument.
Bildquelle: hamburg.de
veröffentlicht am 12.10.2017
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