Rede Astrid Rothe-Beinlich anlässlich des 32. Jahrestages der Besetzung der Erfurter Stasizentrale; 4.Dezember 2021

Genau hier, in Erfurt, wurde bei der Aufarbeitung von Diktatur- und Geheimdienstgeschichte  am 4. Dezember 1989 Geschichte geschrieben. Heute vor 32 Jahren besetzte eine Gruppe mutiger Frauen und Männer diese Stasi-Bezirksdienststelle. Ihrem Beispiel folgten mutige Menschen in anderen Bezirkshauptstädten – vor zwei Jahren haben wir hier die Geschichte aus Suhl gehört. Sie alle haben den Grundstein gelegt für die Transparenz der Geheimpolizei. Dank ihnen konnte ein Großteil der Stasiakten vor der Vernichtung gerettet, gesichert und nutzbar gemacht werden. Mit der Offenlegung und Zugänglich-Machung der Akten wurde deutlich, wie die Machtinstrumente der Diktatur wirkten. Dank der Akten erfahren und erfuhren wir, wer, wie und warum für die Stasi gespitzelt oder gar gearbeitet hat. 

Ich war im Dezember 1989 auch hier. Als eine der Jüngsten engagierte ich mich in der sog. Bürgerwache, die mit der Besetzung eingerichtet wurde. Im Frühsommer 1991 habe ich meine Erinnerungen an diese Zeit aufgeschrieben und will Sie und Euch heute daran teilhaben lassen:

„Ab sofort wurden Leute gebraucht, die Wache in der Staatssicherheitszentrale halten würden. Zwei Stunden jeweils bis zur Ablösung an einer Stelle. Ich meldete mich sofort, verbrachte jede freie Minute in der Stasizentrale. Wache am Nordtor – es war erbärmlich kalt… Wache im Bunker, Totenstille, Dunkelheit… Wache in der U-Haft-Station. Die Zellen, Stuhl und Bett, Gipsschüsselchen, Dunkelheit, vielfache Verriegelung, offene Stromkabel, alles vergittert, niedrige Gänge. Alles dreckig. Schrecklich. Kleine Zellen, kein Fenster. Neonbeleuchtung. Wache am Eingang. Kontrollieren der noch ein- und ausgehenden Stasileute, die ihre Büros ausräumen. Nicht nur Büros. Immer wieder aufgebrochene Versiegelungen. Peinlich, wenn ich als gerade 16jährige einen Lehrer untersuchen muss. Immer weniger Leute für die Wache. Ich beantrage in der Schule jetzt meine verweigerte Zivilverteidigung nachzuholen. (…) Siehe da, drei Tage bekam ich frei, war oft bis spät abends dort. Schließlich übernahm ich die Küche, kochte Kaffee und machte Essen für unsere Leute und die Polizei, die jetzt plötzlich mit uns zusammen Wache hielt. Es war ein komisches Gefühl. Auch Leo war oft mit da. (…) Jetzt, im April 1991, haben wir erfahren, dass Leo (IMB Schubert) inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war. Er war bei uns zu Hause phasenweise ein- und ausgegangen, hatte Papier zum Drucken besorgt, wusste von den zugeklebten Fenstern…

Wir, die Leute von der Bürgerwache, kannten uns bald besser. Anfangs kamen etliche für ein paar Stunden, aber dann wurden es immer weniger.

Weihnachten in der Staatssicherheit. Am 24. Dezember gegen Mitternacht kamen plötzlich etwa 25 Leute mit Geschenken, Kerzen, Pfefferkuchen, sogar einem kleinen Weihnachtsbaum. Wir sangen Weihnachtslieder, tranken Kaffee. Wir waren nicht allein. Aber es tat sich nichts. Das machte krank. Die Bürgerwachenleute wurden übermüdet gereizt. Schließlich traten einige von ihnen in den Hungerstreik, ich durfte noch nicht mitmachen, weil ich noch keine 18 war…“

Heute wissen wir, dass damals wahrlich Großes gelang. Mit der Sicherung der Akten und der Möglichkeit, zu erfahren, was war und sich so der eigenen Geschichte wieder zu bemächtigen, konnte die jahrelange Ohnmacht gegenüber der scheinbar übermächtigen Stasi überwunden werden. Auch wenn das teils neue Wunden aufriss, weil sich Freunde oder Bekannte als willfähige Helfer oder Mitarbeiter des Geheimdiensts erwiesen, die Öffnung der Akten setzte ein Signal für Transparenz in der Gesellschafft. Und diese Offenlegung des Wirkens der Staatssicherheit der DDR förderte auch das Bewusstsein für mehr Transparenz von staatlichem Handeln in unserer Demokratie. Roland Jahn formulierte das in einer Rede einmal wie folgt: 

„Transparenz und Aufklärung sind der beste Weg einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 

Es geht nicht um Vergeltung, sondern um Aufklärung. Es geht darum, zu begreifen wie Diktatur funktioniert. Und warum es so lange gedauert hat, bis die Menschen die Angst verloren haben.

Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten. Das ist die Lektion aus den Akten, die wir den nächsten Generationen mitgeben müssen. Die Schule der Demokratie, sie endet nie.“

Und mit diesen Worten von Roland Jahn will ich meine Rede auch fast beenden. Mein Dank gilt einmal mehr der Gesellschaft für Zeitgeschichte, die auch heute wieder zum Erinnern und Gedenken an diesen Ort geladen hat. Bleibt Ihr – bleiben Sie alle gesund und behütet und tragt den Gedanken von Transparenz und Aufklärung auch in diese heutige Zeit.

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