Aufruf im September 2014
Die Abschaffung des Ehegattensplittings ist schon lange eine Grüne Forderung. Seit der Bundestagswahl 2013 hat eine innerparteiliche Debatte über die von uns geforderten Maßnahmen in der Steuerpolitik begonnen, in der auch die grüne Kritik am Ehegattensplitting wieder relativiert wird. Wir sagen ganz klar: Wir wollen das Ehegattensplitting weiterhin abschaffen. Ist das bevormundend? Widerspricht das unserer liberalen, bürgerrechtlichen Tradition? Oder ist es vielmehr ein neoliberaler Ansatz, der sich dem ausbeuterischen Kapitalismus unterwirft? Wir sind überzeugt: nichts von dem ist richtig. Im Gegenteil, das Ehegattensplitting steht Freiheit und Selbstbestimmung entgegen. Und zwar in dreierlei Hinsicht:
Erstens wirkt das Ehegattensplitting vor allem in Kombination mit Minijobs und ungleicher Entlohnung von Männern und Frauen wie ein Anreiz für ein einziges sehr spezifisches Lebensmodell: Die Allein- oder Eineinhalbverdiener-Ehe.
Zweitens ist es ein Bestandteil eines ganzen Systems, das Frauen in die Altersarmut abrutschen lässt. Das Ehegattensplitting wirkt der finanziellen Absicherung von Frauen entgegen.
Und drittens steht diese einseitige staatliche Förderung eines bestimmten Lebensmodells einer vielfältigen Gesellschaft, in der alle selbstbestimmt leben können, entgegen.
Wir Grüne wollen das Ehegattensplitting abschaffen, weil wir Menschen nicht vorschreiben wollen, wie sie ihr Leben gestalten. Uns ist es egal, ob sie heiraten oder nicht, ob sie mit oder ohne Kindern leben wollen oder Vollzeit oder Teilzeit arbeiten möchten. Ihre Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Lebensmodell soll nicht durch staatliche finanzielle Anreize vorgegeben sein. Wir wollen, dass unterschiedliche Lebens- und Familienmodelle gleichberechtigt und ohne Wertung nebeneinander existieren können. Das Ehegattensplitting wirkt genau diesem Ziel entgegen, weil es ein bestimmtes Lebensmodell gegenüber den anderen klar privilegiert. Das Ehegattensplitting macht unfrei. Deshalb gehört es abgeschafft – und zwar so schnell wie möglich. Dafür braucht es eine Übergangsphase, die ernst nimmt, dass manche Paare langfristig mit dem Splittingvorteil gerechnet haben. Wie lang diese Übergangsphase sein muss und wie sie aussehen kann, wollen wir in den nächsten Monaten in der Partei und mit der Zivilgesellschaft diskutieren.
DAS MACHT DAS SPLITTING
Das Ehegattensplitting wurde Ende der 1950er Jahre eingeführt, um verheiratete Paare steuerlich nicht schlechter zu stellen, als Unverheiratete. Dabei wurde allerdings bereits bei der Einführung über das Ziel hinausgeschossen – mit dem Ehegattensplitting wurden Verheiratete nun nicht nur nicht mehr benachteiligt, sondern unter gewissen Umständen bevorzugt. Diese Umstände liegen bis heute dann vor, wenn der Erwerbsunterschied zwischen den Partner*innen besonders groß (typischerweise bei einer Alleinverdiener-Situation) und das Einkommen besonders hoch ist. Die größte staatliche Förderung gibt es heute wie damals, wenn eine Person besonders viel und die andere besonders wenig verdient. Dies mag Mitte des letzten Jahrhunderts der Lebenswirklichkeit vieler Paare entsprochen haben, heute tut es das längst nicht mehr. Viele Paare, ob verheiratet oder nicht, sind auf zwei Erwerbseinkommen angewiesen. Viele Paare mit Kindern sind heute nicht mehr verheiratet. Und viele Ehen werden geschieden.
DAS SPLITTING IST DOPPELT UNGERECHT
Das Ehegattensplitting ist eine steuerliche Förderung. Das bedeutet, dass ein Ehepaar erstmal relevant Einkommen verdienen muss, das zu besteuern wäre, um überhaupt vom Ehegattensplitting zu profitieren. Und der Einkommensunterschied muss relevant groß sein. Weder sehr reiche noch sehr arme Ehepaare profitieren vom Splitting, wenn sie in etwa gleich viel zum Haushaltseinkommen beitragen. Zweitens führt es dazu, dass viele Ehepaare aus den Ostdeutschen Ländern (in denen traditionell beide Partner*innen eher einer Vollerwerbsarbeit nachgehen und die Einkommen daher ausgeglichener sind) Ehepaare in Westdeutschland (in denen bis heute häufig Frauen nur Teilzeit oder im Minijob zuverdienen) subventionieren. Diese doppelte Ungerechtigkeit wollen wir beenden.
DAS SPLITTING DRÄNGT PAARE IN TRADITIONELLE ROLLENBILDER
Das Ehegattensplitting führt dazu, dass es sich für verheiratete Paare lohnt, wenn eine Person ganz zuhause bleibt oder nur mit einem Mini-Job zum Ehe-Einkommen beiträgt. Dies führt dazu, dass Partner*innen, die ursprünglich beide einer Berufstätigkeit nachgehen wollten, sich aus rationalen Gründen für ein Allein- oder Haupternährermodell entscheiden, weil es einfach (zumindest kurzfristig) wirtschaftlich sinnvoller ist.
DAS SPLITTING BIRGT EIN HOHES ARMUTSRISIKO FÜR FRAUEN UND KINDER
Die Personen, die dann zuhause bleiben, sind heute immer noch sehr häufig Frauen. Dies schränkt letztlich ihre Berufsfreiheit ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen nach x Jahren Erwerbslosigkeit oder einer Tätigkeit, die nicht ihrem Qualifikationsniveau entsprach, keinen Job finden, von dem sie leben können, ist hoch. Im Falle einer Scheidung sind deshalb Frauen (und mit ihnen oft ihre Kinder) einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt. Das kann bis hin zur Altersarmut führen oder im Extremfall sogar eine Hürde für Ehefrauen (und ihre Kinder) darstellen, sich aus gewaltvollen Beziehungen zu lösen.
HER MIT DEM SCHÖNEN LEBEN – EIGENSTÄNDIGE EXISTENZSICHERUNG ERMÖGLICHEN!
Wir wollen eine eigenständige Existenzsicherung für Frauen statt Minijobs, ungleichen Löhnen und existenziellen Abhängigkeiten.
Wir wollen eine Individualbesteuerung statt Splitting.
Wir wollen erreichen, dass Frauen endlich den gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit bekommen. Das fängt mit der Aufwertung und der gerechten Entlohnung „typisch weiblicher“ Berufe an und hört bei der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen in gleichen Berufsklassen auf.
Wir wollen eine finanzielle Förderung, die bei allen Kindern ankommt.
Wir wollen, dass es Frauen und Männern ermöglicht wird, Beruf und Familie zu vereinbaren, durch ausreichende und qualitativ gute Kinderbetreuung.
Wir wollen, dass Frauen und Männer selbstbestimmt über ihre Zeit bestimmen können und neben dem Beruf genug Zeit für sich selbst, für Familie, Freunde, Freizeit und Engagement haben.
Wir wollen existentielle Nöte von Frauen jeden Alters beenden und besonders Altersarmut vorbeugen.
Wir wollen eine Gesellschaft, in der es gleiche Chancen für alle gibt, alle Talente gefördert werden, unabhängig von Geschlecht oder Herkunft.
Das sind die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben für Frauen.
KINDER STATT TRAUSCHEIN FÖRDERN!
Tatsache ist, Ehe und Kinder fallen heute immer häufiger nicht zusammen. Mit dem Ehegattensplitting fördert der Staat aber explizit Ehen und nicht Kinder. An Kindern von nicht-verheirateten Paaren, Kindern in Ein-Eltern-Familien, Kindern von Ehepaaren, die in etwa gleichviel zum Haushaltseinkommen beitragen geht die steuerliche Subventionierung der Ehe völlig vorbei. Wir brauchen eine Förderung, die sich an den Kindern ausrichtet und nicht am Trauschein. Daher arbeiten wir an einem Modell einer Kindergrundsicherung, mit der alle Kinder erreicht werden. Wir wollen, dass Menschen frei wählen können, ob sie mit oder ohne Trauschein zusammen leben wollen.
Aber es geht nicht nur um finanzielle Förderung, sondern auch um Bedingungen, die den Eltern ermöglichen, Erwerbs- und Care-Arbeit gleichberechtigt untereinander aufzuteilen. In den letzten Jahren wurde zwar die Betreuungsinfrastruktur ausgebaut, doch noch immer fehlen Betreuungsplätze, die es Müttern und Vätern ermöglichen, frei zu wählen, ob sie ihr Kind zuhause selbst betreuen oder in eine Kita geben wollen. Auch bei der Qualität gibt es häufig noch viel Luft nach oben. Wir brauchen eine qualitativ hochwertige Betreuungsinfrastruktur, damit Eltern ihre Kinder auch gerne und beruhigt in eine Kita geben können.
ALTERSARMUT VERHINDERN!
Die Lebens- und Erwerbsverläufe von Frauen und Männern unterscheiden sich bis heute. Daran hat auch das Ehegattensplitting einen erheblichen Anteil. Es funktioniert als staatlicher Anreiz, um Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Dies hat nicht nur Folgen für die eigenständige Existenzsicherung von Frauen (und Kindern) in der Gegenwart, sondern bis weit in die Zukunft. Denn heutige Einkommensschwäche führt nicht nur zu Problemen bei einer Trennung, sondern auch zu Altersarmut. Dadurch, dass viele Frauen innerhalb einer Ehe nur Teilzeit arbeiten oder sogar nur einem Minijob nachgehen, zahlen sie nur wenig oder gar nicht in die Rentenkassen ein. Dies führt dann dazu, dass die Rentenansprüche entsprechend gering sind. Das „Gender-Pension-Gap“, also die Rentenlücke zwischen Frauen und Männern, beträgt knapp 60 Prozent. Das bedeutet, das sich die Entgeltlücke zwischen Frauen und Männern in der Lebensverlaufsperspektive dramatisch verschärft.Und dies nicht nur im Falle einer Trennung, sondern auch nach dem Tod des Ehepartners. Danach haben verwitwete Frauen zwar Anspruch auf Witwenrente, aber diese reicht häufig nicht aus, um Wohn- und weitere Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Altersarmut macht unfrei und ist weiblich, 54 Prozent der heutigen Rentner*innen, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, sind Frauen.
EINSEITIGE ANREIZE BEENDEN!
Die Frage, wie diese Negativspirale durchbrochen werden kann, ist heute genauso aktuell wie in den 1980er Jahren. Damals haben wir GRÜNEN beschlossen: wir wollen „die Abschaffung des Ehegatten-Splittings, weil es allein die Hausfrauenehe begünstigt.“ Auch wenn diese Aussage aus heutiger Perspektive zu undifferenziert ist und wir keine alternativlose Abschaffung, sondern eine Ersetzung durch ein neues Fördermodell von Kindern wollen, stimmt die Grundrichtung noch immer. Aufgabe von Politik ist es, Menschen, unabhängig von ihrem sozialen Stand und Status die gleichen Bedingungen zu ermöglichen und diejenigen zu unterstützen, die auf diese Unterstützung angewiesen sind. Es ist Aufgabe von Politik, die Anreize so zu setzen, dass sie nicht zu erhöhtem Armutsrisiko oder gar zu Altersarmut führen. Es ist dagegen nicht Aufgabe von Politik, ein spezifisches Lebensmodell zu bevorzugen und zu fördern. Da es aber auf der anderen Seite viele Ehen gibt, die ihre Lebensplanung auch auf dem Ehegattensplitting aufgebaut haben, kann diese steuerliche Subvention nicht von heute auf morgen ersatzlos gestrichen werden.
UNSER LEITBILD: EMANZIPATORISCHE GESELLSCHAFTSPOLITIK!
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für eine emanzipatorische Gesellschaftspolitik. Unser Ansatz ist es, allen Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das Ehegattensplitting steht dem entgegen. Es ist ein antiquiertes und völlig ungeeignetes Mittel moderner Familien-, Frauen- und Gesellschaftspolitik. Wir wollen die Debatte darüber führen, wie wir das Ehegattensplitting abschaffen können, welche Übergangszeiten und Härtefallregelungen wir brauchen. Dazu ist Kreativität und sind auch neue Ideen gefragt. Wir wenden uns aber entschieden dagegen, das Ehegattensplitting gar nicht mehr anzutasten. Denn mit dem Ehegattensplitting können wir keine Selbstbestimmung ermöglichen.
Unterzeichnerinnen:
Carola Wesbuer, Mitglied im Landesvorstand Berlin Friederike Schwebler, LAG Frauen- und Geschlechterpolitik, Berlin
Sophie Karow, Frauenpolitische Sprecherin des Landesvorstands, NRW
Mareike Engels, Sprecherin BAG Frauenpolitik, Hamburg
Josefine Paul, Frauenpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion NRW
Terry Reintke, MdEP, Frauenpolitische Sprecherin der Grünen Europafraktion, NRW
Sina Doughan, Mitglied im Präsidium des Bundesfrauenrats, Bayern
Theresa Kalmer, Bundesvorstandssprecherin der Grünen Jugend
Sandra Hildebrand, Sprecherin BAG Frauenpolitik Berlin
Linda Lieber, Sprecherin LAG Frauenpolitik NRW
Ska Keller, MdEP, Brandenburg und Sachsen-Anhalt
Astrid Rothe-Beinlich, MdL, Vizepräsidentin des Thüringer Landtages
veröffentlicht am 17.09.2014
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