Maßnahmenpapier: Gesamtstrategie gegen Rechtsextremismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Stand: 30.09.2021
In Thüringen und Deutschland erleben wir in den letzten Jahrzehnten eine Kontinuität extrem rechter Aktivitäten, Straftaten und Gewalttaten. Für die jüngste Zeit seien hier vor allem der NSU- die rechtsterroristischen Attentate von Hanau und Halle oder die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erwähnt. Auch in Thüringen gab und gibt es immer wieder brutale Übergriffe auf PoC (People of Colour), Journalist*innen und vermeintliche Linke wie der Überfall auf eine Kirmesgesellschaft in Ballstädt, der Übergriff auf eine Gruppe von Menschen vor der Staatskanzlei und auf das AJZ (Autonomes Jugendzentrum), der brutale Übergriff auf Journalist*innen in Fretterode oder der Angriff auf einen jungen Syrer in einer Erfurter Straßenbahn. Hinzu kommt, dass sich unterschiedliche Akteur*innen der extremen Rechten in den letzten Jahren zunehmend vernetzen und rassistische und menschenverachtende Diskussionen durch die Höcke-AfD im Parlament massiv verstärkt werden. Die Bundestagswahl macht deutlich, dass wir es in Thüringen mit einem verfestigten AfD-Wählerklientel zu tun haben. Die AfD konnte hier einen Zuwachs in Höhe von 1,3 % erreichen. Damit sind wir das einzige Bundesland, in dem die AfD zulegen konnte. Auch wenn der Zuwachs gering ist, müssen wir hier feststellen, dass trotz der Einstufung des AfD-Landesverbandes als gesichert extremistisch durch den Thüringer Verfassungsschutz, die Menschen bereit sind, die AfD zu wählen. Dabei ist zu bemerken, dass eine Mehrheit der AfD-Wähler*innen eben keine Protestwähler*innen sind, sondern aus Überzeugung AfD wählen und das eben wegen ihrer Inhalte, wegen der völkischen und rassistischen Ausrichtung und wegen ihres Personals. Als verstärkend problematisch hat sich hier einmal mehr die Unwilligkeit der konservativen CDU ausgewirkt, die sich eben nicht klar von der AfD abgegrenzt hat. Deutlich wurde dies zuletzt mit der Aufstellung von Hans-Georg Maaßen als Direktkandidat für den Wahlkreis 196. Das Wahlergebnis zeigt, dass das Aufstellen von rechtskonservativen Kandidaten eben nicht Stimmen von der AfD zieht und diese dadurch schwächt, sondern lediglich im Wahlkampf zu einer weiteren Diskursverschiebung nach rechts führt.
Die auf Verschwörungsideologien basierenden Corona-Proteste in den letzten Monaten verstärken hier zusätzlich autoritäre Vorstellungen und antidemokratische, antisemitische und rassistische Erzählungen und Positionen. „Die Basis“ als Partei der Coronaleugner*innen hat aus dem Stand in Thüringen 1,6% erreicht.
Die politischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität müssen als Notwendigkeit für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft mehr Anerkennung erfahren und das Wissen darum gestärkt werden. Neben dem Engagement der Zivilgesellschaft sind vor allem Politik und der Rechtsstaat gefragt, extrem Rechten und deren Aktivitäten und Straftaten klar entgegenzutreten. Aus unserer Sicht braucht es dafür ein umfangreiches Maßnahmenpaket gegen die extreme Rechte, insbesondere im Bereich der Polizei und Justiz:
1. Verstärkte Information der Zivilgesellschaft und der Kommunen über örtliche Akteur*innen, Strukturen und Aktivitäten im Bereich der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durch geeignete Informationsmaterialien und Veranstaltungen. Dies sollte auch über den Gemeinde- und Städtebund und den Landkreistag angeboten werden. Angebote zur regelmäßigen Schulung der kommunal Verantwortlichen und der Verwaltungsmitarbeiter*innen zum Umgang mit extrem rechten Strukturen.
2. Mit dem Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit haben wir bereits ein wichtiges Instrument, das unter anderem unterschiedliche Zielgruppen wie Lehrkräfte, Schüler*innen, Studierende, Bürger*innen über Rechtsextremismus, die Gefahren des Rechtsextremismus und digitale Gewalt informiert und aufklärt. Dieses Landesprogramm muss jedoch evaluiert und überarbeitet werden. So sollte die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus als zentrale Aufgaben und als Schwerpunkte für alle Projekte genannt werden. Auch sollte innerhalb des Landesprogramms eine stärkere Vernetzung innerhalb der einzelnen Regionen stattfinden.
3. Bürger*innen müssen für Desinformation und Fake News sensibilisiert werden, damit sie diese frühzeitig erkennen und einordnen können. Deshalb brauchen wir breite und verstärkte Angebote in Schulen und (auch außerschulischen) Bildungseinrichtungen, die gezielt die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen stärken und ausbilden. Aber auch viele Erwachsene müssen sich diese Medienkompetenz im digitalen Raum erarbeiten. Wir regen daher an, die Dachverbände der Erwachsenenbildung direkt anzusprechen und mit den anerkannten Trägern der Erwachsenenbildung gezielte Konzepte zu erarbeiten und umzusetzen.
4. Um Menschen zu helfen, deren Bekannte oder Verwandte Verschwörungsideologien anheimfallen, benötigt es professionelle und evidenzbasiert arbeitende Beratungsstrukturen, an die sie sich wenden können. Auf Bundesebene gibt es mit Veritas, der Beratungsstelle für Betroffene von Verschwörungserzählungen schon eine Einrichtung, die als Vorbild genutzt werden kann. Auf Landesebene könnte die Beratung durch schon vorhandene Beratungsstellen wie mobit oder ezra mit angeboten werden.
5. Finanzierung von Forschungsaufträgen zur Entwicklung von Maßnahmen gegen Hate Speech im Internet. Die Beratungsstelle gegen Hate Speech aus dem Haushalt 2021 muss endlich umgesetzt werden.
6. Bereits in der letzten Legislatur wurde eine wissenschaftliche Untersuchung zu Opfern rechter Gewalt in Thüringen im Landeshaushalt angestrebt. Diese Studie ist immer noch nicht umgesetzt. Wir erwarten hier eine zügige Realisierung noch in diesem Jahr.
7. Die Demokratieförderung muss durch ein Demokratiefördergesetz auf Landes- und Bundesebene sichergestellt werden.
8. Etablierung von geeigneten Maßnahmen zur Prävention und zum frühzeitigen Erkennen demokratie- und menschenfeindlicher Einstellungen bei Bediensteten im öffentlichen Dienst, auch im Bereich der Justiz, einschließlich Weiterentwicklung der Aus- und Fortbildungskonzepte und Leitbilder. Dies beinhaltet auch eine Sensibilisierung für Aspekte des institutionellen bzw. strukturellen Rassismus.
9. Die Polizeivertrauensstelle muss nach dänischem Vorbild gestärkt und die Einrichtung einer ähnlichen Stelle für alle Beamt*innen geprüft werden. Diese Stellen müssen weitestgehend unabhängig sein sowie eigene Ermittlungskompetenzen besitzen.
10. Justiz und Polizei sollten für unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen geöffnet werden. Wenn Wissenschaftler*innen Daten von der Polizei erheben wollen, sollten sie direkt bei den Polizeidienststellen nachfragen dürfen und nicht erst beim Innenministerium. Daher möchten wir einen Forschungserlass anregen, ähnlich dem schon bestehenden Medienerlass.
11. Polizei und Strafverfolgungsbehörden müssen zum frühzeitigen Erkennen und zur wirksamen Bekämpfung rechtsextremer Strukturen und verstärkten Verfolgung von Hass-Postings ertüchtigt werden. Dies kann z.B. über eine sog. „Online-Streife“ umgesetzt werden. Darüber hinaus sollte eine stärkere Sensibilisierung der mit Strafermittlungen befassten Bediensteten hinsichtlich der Erkennung rechtsextremer Hintergründe bzw. rassistischer Motive bei Straftaten erreicht werden. Auch streben wir eine grundlegende Reform des Verfassungsschutzes insgesamt an.
12. Das Einstufungssystem in der PMK (Politisch motivierte Kriminalitäts)-Statistik muss überarbeitet werden. Wird ein rassistisches Tatmotiv bei der Polizei aktenkundig, muss nachvollzogen werden können, welche Rolle die rassistische Komponente auf den weiteren juristischen Verfahrensverlauf und die Strafzumessung gespielt hat. Dazu muss ein verbindlicher gegenseitiger Informationsaustausch zwischen Polizei und Justiz eingeführt werden (ggf. eine Verlaufsstatistik PMK und speziell rechtsextreme Tatmotive).
13. Verfahren aus dem Phänomenbereich des Rechtsextremismus müssen beschleunigt und offene, nicht vollstreckte Haftbefehle gegen Rechtsextreme zeitnah vollstreckt werden. Gegen Volksverhetzung muss online wie offline konsequent vorgegangen werden. Es sollten gezielte Fortbildungen für Richter*innen und Staatsanwält*innen hinsichtlich des Umgangs mit rechtsextremen und rassistisch motivierten Taten umgesetzt werden. Außerdem sollte eine Schwerpunkstaatsanwaltschaft Rechtsextremismus und Hasskriminalität in Thüringen eingerichtet werden, damit Verfahren mit rechten, rassistischen oder antisemitischen Motiven prioritär behandelt werden können. Schließlich muss ein verlässlicher Datenschutz für Opfer und Zeug*innen in Strafprozessen durch die Justiz gewährleistet werden.
14. Auch Frauen sind Nazis. Frauen in der extremen Rechten werden nach wie vor viel zu häufig übersehen und unterschätzt. Sie sind aber weit mehr als der soziale Kitt in rechtsextremen und rassistischen Zusammenschlüssen und nehmen vielfach wichtige und führende Funktionen wahr. Für Frauen in der extremen Rechten ist der Ausstieg aus der Szene – gerade wenn sie Kinder haben – oft nahezu unmöglich. Es braucht daher gezielt demokratische Mädchenarbeit und Ausstiegsangebote, die auf Frauen und Mädchen zugeschnitten sind. Auch benötigt es in diesem Bereich noch deutlich mehr Forschung, wie es beispielsweise das „Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus“ bietet. Daher sollten hier von Landesseite Forschungsgelder zur Verfügung gestellt werden.
15. Für völkische und rechtsextreme Kräfte ist der ländliche Raum seit jeher ein wichtiger Ort. Gerade in strukturschwachen Regionen siedeln sich in vielen Bundesländern, auch in Thüringen, rechte Familien an, als Teil einer sogenannten „Kulturrevolution von rechts“. Wichtig ist hier eine enge Zusammenarbeit von Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft, um vor Ort über die Gefahren rechter Landnahme zu informieren und Aktionen und Veranstaltungen zu organisieren. Wichtig ist es auch, Handlungskonzepte für betroffene Kommunen zu entwickeln. Darüber hinaus ist es wichtig, in strukturschwachen Regionen die Infrastruktur zu verbessern und gerade dort verstärkt in die Jugend- und Sozialarbeit zu investieren.
16. Die extreme Rechte nutzt auch in Thüringen Immobilien als notwendige Infrastruktur, als Bildungs- und Schulungszentren, für Veranstaltungen (Parteitage, Konzerte) und als Rückzugsräume. Sie dienen auch als Waffen- und Sprengstofflager und als Ausgangspunkt für rechte Gewalttaten. Hier bedarf es einer engen Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft, um den Gestaltungs- und Entfaltungsspielraum der Rechten möglichst einzuschränken. Auch bedarf es weiterhin einer umfangreichen Information und Aufklärung über diese spezielle Strategie der extrem rechten Szene. Gerade Kommunen benötigen hier Unterstützung, wie sie sich gegen die Inanspruchnahme rechter Immobilien, beispielsweise durch kommunale Vorkaufsrechte, wehren können.
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