Gemeinsame Erklärung zum Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor fremdbestimmten, irreversiblen Eingriffen
Medizinische Eingriffe an intergeschlechtlichen Säuglingen und Kindern, die auch die Angleichung an das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das männliche oder weibliche Geschlecht zur Folge haben, werden in Deutschland anhaltend durchgeführt, und zwar auch ohne Vorliegen einer zwingenden medizinischen Indikation. Diese Eingriffe können für die Betroffenen schwerwiegende psychische und physische Folgen haben, da sie zu irreversiblen Auswirkungen im Hinblick auf Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit führen können und zudem gesellschaftliche, familiäre und soziale Bereiche betreffen.
Als Bündnisgrüne Rechtspolitiker*innen begrüßen wir, dass der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung hier endlich einen Schritt in eine längst überfällige Richtung macht: einen Schritt in Richtung Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor fremdbestimmten, irreversiblen Eingriffen in ihre körperliche Unversehrtheit. Damit greift der Bundesgesetzgeber zumindest in Ansätzen eine Forderung der grünen Bundestagsfraktion auf, die bereits 2013 im Antrag „Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren“ (Bundestagsdrucksache 17/12851) formuliert wurde.
Genitalverändernde chirurgische Eingriffe und medikamentöse Behandlungen ohne jegliche medizinische Indikation und vor allem ohne bzw. gegen den Willen des betroffenen Menschen finden nach wie vor statt. Diese Praxis verletzt Menschenrechte und wir wollen sie beenden. Dabei muss der Grundsatz gelten: Operationen und Behandlungen sind unzulässig. Ausnahmen von diesem Grundsatz sollen nur in zwei Fällen möglich sein: wenn Leben oder Gesundheit des betroffenen Kindes schwerwiegend bedroht sind oder das einwilligungsfähige Kind ausdrücklich einen Eingriff oder eine Behandlung wünscht. In diesen Ausnahmefällen ist die kompetente Begleitung des betroffenen Kindes und seiner Eltern/Erziehungsberechtigten dringend geboten. Um die menschenrechtswidrige Praxis der Eingriffe und Behandlungen effektiv zu verhindern, ist zudem eine verbesserte und gleichzeitig datenschutzsensible Dokumentation entscheidend. Hier lässt der Bundesgesetzgeber entscheidende Lücken.
Im Einzelnen fordern wir:
- Klarstellendes Verbot aller genitalverändernden chirurgischen Eingriffe bzw. medikamentösen oder sonstigen Behandlungen
Die neue gesetzliche Regelung lässt nach wie vor zu viele Lücken. Das Gesetz lässt zu viel Raum für kosmetische oder vermeintlich psychosoziale Eingriffe, denen intergeschlechtliche Säuglinge und Kinder, die nicht mit eindeutig weiblichen oder männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, in dem Versuch unterzogen werden, ihre körperliche Erscheinung und Funktion mit den binären Geschlechterstereotypen in Einklang zu bringen. Zudem schränkt das Merkmal „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ den Schutzbereich zu sehr ein und ermöglicht damit eine Umgehung des Verbots durch die bloße Behauptung, es läge keine Variante der Geschlechtsentwicklung vor.
Wir fordern daher ein Verbot sämtlicher genitalverändernder Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, das diesen Namen auch verdient. Abweichungen von diesem Verbot dürfen – anders als bisher – nur in engen Ausnahmefällen möglich sein, in denen die Gesundheit des Kindes schwerwiegend oder das Leben unmittelbar bedroht sind oder das einwilligungsfähige Kind ausdrücklich einen Eingriff wünscht.
- Keine Entscheidung über Operationen und Behandlungen ohne Peer-Beratung
Das Gesetz sieht eine obligatorische Peer-to-Peer-Beratung weder für die familiengerichtliche Genehmigung noch für die Überprüfung und Feststellung der Einwilligungsfähigkeit des Kindes vor. Aufgrund fehlender Erfahrungen und Peer-Kontakten ist es vielen intergeschlechtlichen Minderjährigen oftmals nicht möglich, sich ein Leben außerhalb binärer Geschlechtermodelle vorzustellen.
Wir fordern daher die Einführung einer obligatorischen Peer-Beratung sowohl für das familiengerichtliche Genehmigungsverfahren als auch für die Überprüfung und Feststellung der Einsichtsfähigkeit des betroffenen Kindes. Eine solche Einführung könnte zudem flankiert werden durch die Normierung eines eigenständigen Anspruches auf (Peer-)Beratung und psychosoziale Betreuung durch unabhängige Stellen sowohl für Eltern als auch für betroffene Kinder.
- Einrichtung eines bundesweiten zentralen Registers zur Erfassung aller an Minderjährigen vorgenommener genitalverändernder Eingriffe
Obgleich das Gesetz eine Evaluierungszeit von fünf Jahren statuiert, sind keine Regelungen vorgesehen, die eine regelmäßige bundesweite, zentrale und transparente Erfassung von genitalverändernden Eingriffen an Minderjährigen normieren. So fehlt es weiterhin an einer verlässlichen und transparenten Datenlage, die für künftige Anpassungen der Gesetzeslage herangezogen werden könnte und zudem die Schutzwirkung des Gesetzes für die Betroffenen erhöht. Zudem soll ein Zentralregister den Betroffenen helfen, wenn sie größer geworden oder bereits erwachsen sind und die Geschichte ihrer geschlechtsbezogenen medizinischen Behandlungen nachvollziehen wollen, Zugang zu allen medizinischen Fallakten an einer Adresse zu erhalten.
Wir fordern daher die Einführung eines bundesweiten zentralen Registers für alle durchgeführten genitalverändernden Operationen und medikamentösen oder sonstigen Behandlungen, die eine Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes zur Folge haben können.
- Keine Umgehung des Verbots durch Vornahme von Eingriffen bzw. Behandlungen im Ausland
Es muss sichergestellt werden, dass die nach § 1631e BGB-E verbotenen medizinischen Behandlungen nicht im Ausland durchgeführt werden. Dazu ist es erforderlich, strafrechtlich relevante Verstöße gegen § 1631e BGB-E in den Katalog der in Deutschland verfolgbaren Auslandsstraftaten des § 5 StGB aufzunehmen, wie dies zum Beispiel für den Straftatbestand der Verstümmelung weiblicher Genitalien (§ 226a StGB) passiert ist.
Wir fordern daher, den Straftatenkatalog des § 5 StGB zum Schutz vor rechtswidrigen genitalverändernden Eingriffen und Behandlungen zu ergänzen.
- Verlängerung der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verjährungsfristen
Das Gesetz sieht keine Änderung der geltenden Verjährungsbestimmungen vor, sodass sowohl die strafrechtliche Verfolgung eines gemäß §§ 223 ff. StGB i.V.m. § 1631e BGB-E rechtswidrigen Eingriffs als auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gemäß §§ 823 ff. BGB i.V.m. § 1631e BGB-E in zu kurzer Zeit verjährt sein können. Danach bringt eine verlängerte Aufbewahrung der Patientenakten für die ehemals minderjährige Person, an der der rechtswidrige Eingriff vorgenommen wurde, nur noch die Möglichkeit der Kenntnisnahme zu den Umständen der rechtswidrigen Handlung und den daran Beteiligten. Diese können nicht mehr rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
Wir fordern daher, die strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verjährungsregelungen und die Aufbewahrungsfristen für Gerichtsakten anzupassen, um sie mit dem Ziel des Gesetzes, vor rechtswidrigen Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung zu schützen, in Einklang zu bringen.
- Interdisziplinäre Kommission
Nach dem Gesetz soll eine interdisziplinäre Kommission zur Einwilligung in operative Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen Stellung nehmen. Allerdings stellen sich in diesem Kontext mehrere Fragen, auf die im Gesetzentwurf keine Antworten zu finden sind, was die Praktikabilität dieser Lösung in Frage stellt. Es ist völlig unklar, wie und von wem die Kommission zusammengesetzt werden sollte und wer dafür die Kosten tragen soll. Auch das Prozedere der Erarbeitung einer Stellungnahme wird nicht geregelt. Ferner bleiben die Fragen der Haftungspflichten der Mitglieder völlig offen. Daher bedarf es einer gesetzlichen Konkretisierung bezüglich der Kommission und der Klarstellung, dass die Kosten dafür der Staat und nicht die Eltern tragen sollen. Außerdem soll die Vorlage der Stellungnahme der Kommission im familiengerichtlichen Verfahren verpflichtend sein.
Wir fordern daher eine gesetzliche Konkretisierung bezüglich der Kommission und die Klarstellung der staatlichen Kostenübernahme.
Dirk Adams
Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz Thüringen
Dirk Behrendt
Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Berlin
Sülmez Dogan
Rechtspolitische Sprecherin
Bürgerschaftsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bremen
Anna Gallina
Senatorin für Justiz und Verbraucherschutz Hamburg
Katja Keul
Sprecherin für Rechtspolitik
Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Renate Künast
Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Katja Meier
Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung Sachsen
Astrid Rothe-Beinlich
Fraktionsvorsitzende
Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen
Toni Schuberl
Rechtspolitischer Sprecher
Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bayern
Petra Vandrey
Rechtspolitische Sprecherin
Abgeordnetenhausfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berlin
Kommentar verfassen
Verwandte Artikel
Rassismus und Homophobie dürfen auch in der Justiz keinen Platz haben
Mit Blick auf die aktuelle Berichterstattung zum Vizepräsidenten und Asyl-Richter am Verwaltungsgericht Gera, erklärt Astrid Rothe-Beinlich, justizpolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Thüringer Landtag: „Schon in der Vergangenheit hat die Berichterstattung ein eindeutiges Bild der einseitigen Entscheidungspraxis Fuchs‘ gezeichnet. Wenn die jetzt dank der Antifa Freiburg bekannt gewordenen Äußerungen im Internetforum „TraMiZu“ dem Richter Christian Bengt Fuchs zugeordnet werden können, wären damit rassistische, homophobe, frauenfeindliche und verfassungswidrige Überzeugung tragfähig belegt. Die Person, die die aufgeführten Äußerungen getätigt hat, steht in ihren Überzeugungen fernab der Wertebasis unseres Grundgesetzes. Sollten sich die Recherchen bestätigen, sehen wir nicht, wie diese Person weiter als Richter*in tätig sein könnte.“
Teilen mit:
Gefällt mir:
Weiterlesen »
Unsicherheit bei Landesprogramm Sprach-Kitas
Angesichts der zunehmenden Unsicherheit bei Kindergartenträgern, ob das Landesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ nach 2024 weitergefördert wird, zeigt sich Astrid Rothe- Beinlich, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Thüringer Landtag, besorgt: „Wir haben hart dafür gekämpft, dass wir das seit 2016 in Thüringen erfolgreich etablierte Programm mit Landesmitteln sichern konnten. Unser Ziel war zudem, das Sprach-Kita Programm mit dem ähnlich strukturierten Programm „Vielfalt vor Ort begegnen“ zu einem gemeinsamen Landesprogramm weiterzuentwickeln. Auch deshalb ist es notwendig, Sprach-Kitas – synchron zu „Vielfalt vor Ort begegnen“ – ebenfalls mindestens bis 31. Dezember 2025 weiter zu fördern. Andernfalls droht hier eine Förderlücke, die wir uns angesichts der enormen Herausforderungen bei der Sprachbildung nicht leisten können.“
Teilen mit:
Gefällt mir:
Weiterlesen »
Grüne Fraktion zur Innenminister*innenkonferenz: Keine populistischen Asylrechtsverschärfungen
Fakt ist: Die Lage für die Jesid*innen im Irak lässt weiterhin nicht im Entferntesten zu, sie dorthin zurückzuschicken. Deshalb ist ein bundeseinheitlicher Schutz für sie überfällig. Auf der Tagesordnung der Konferenz stehen neben diesem Antrag aber auch zahlreiche Forderungen nach Asylrechtsverschärfungen.
Teilen mit:
Gefällt mir:
Weiterlesen »