road street sign freedom

Photo by RODNAE Productions on Pexels.com

Menschenrechte intergeschlechtlicher Kinder ernst nehmen!

Gemeinsame Erklärung zum Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor fremdbestimmten, irreversiblen Eingriffen

Medizinische Eingriffe an intergeschlechtlichen Säuglingen und Kindern, die auch die Angleichung an das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das männliche oder weibliche Geschlecht zur Folge haben, werden in Deutschland anhaltend durchgeführt, und zwar auch ohne Vorliegen einer zwingenden medizinischen Indikation. Diese Eingriffe können für die Betroffenen schwerwiegende psychische und physische Folgen haben, da sie zu irreversiblen Auswirkungen im Hinblick auf Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit führen können und zudem gesellschaftliche, familiäre und soziale Bereiche betreffen.

Als Bündnisgrüne Rechtspolitiker*innen begrüßen wir, dass der Bundesgesetzgeber mit dem Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung hier endlich einen Schritt in eine längst überfällige Richtung macht: einen Schritt in Richtung Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor fremdbestimmten, irreversiblen Eingriffen in ihre körperliche Unversehrtheit. Damit greift der Bundesgesetzgeber zumindest in Ansätzen eine Forderung der grünen Bundestagsfraktion auf, die bereits 2013 im Antrag „Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren“ (Bundestagsdrucksache 17/12851) formuliert wurde.

Genitalverändernde chirurgische Eingriffe und medikamentöse Behandlungen ohne jegliche medizinische Indikation und vor allem ohne bzw. gegen den Willen des betroffenen Menschen finden nach wie vor statt. Diese Praxis verletzt Menschenrechte und wir wollen sie beenden. Dabei muss der Grundsatz gelten: Operationen und Behandlungen sind unzulässig. Ausnahmen von diesem Grundsatz sollen nur in zwei Fällen möglich sein: wenn Leben oder Gesundheit des betroffenen Kindes schwerwiegend bedroht sind oder das einwilligungsfähige Kind ausdrücklich einen Eingriff oder eine Behandlung wünscht. In diesen Ausnahmefällen ist die kompetente Begleitung des betroffenen Kindes und seiner Eltern/Erziehungsberechtigten dringend geboten. Um die menschenrechtswidrige Praxis der Eingriffe und Behandlungen effektiv zu verhindern, ist zudem eine verbesserte und gleichzeitig datenschutzsensible Dokumentation entscheidend. Hier lässt der Bundesgesetzgeber entscheidende Lücken.

Im Einzelnen fordern wir:

  1. Klarstellendes Verbot aller genitalverändernden chirurgischen Eingriffe bzw. medikamentösen oder sonstigen Behandlungen

Die neue gesetzliche Regelung lässt nach wie vor zu viele Lücken. Das Gesetz lässt zu viel Raum für kosmetische oder vermeintlich psychosoziale Eingriffe, denen intergeschlechtliche Säuglinge und Kinder, die nicht mit eindeutig weiblichen oder männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, in dem Versuch unterzogen werden, ihre körperliche Erscheinung und Funktion mit den binären Geschlechterstereotypen in Einklang zu bringen. Zudem schränkt das Merkmal „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ den Schutzbereich zu sehr ein und ermöglicht damit eine Umgehung des Verbots durch die bloße Behauptung, es läge keine Variante der Geschlechtsentwicklung vor.

Wir fordern daher ein Verbot sämtlicher genitalverändernder Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, das diesen Namen auch verdient. Abweichungen von diesem Verbot dürfen – anders als bisher – nur in engen Ausnahmefällen möglich sein, in denen die Gesundheit des Kindes schwerwiegend oder das Leben unmittelbar bedroht sind oder das einwilligungsfähige Kind ausdrücklich einen Eingriff wünscht.

  • Keine Entscheidung über Operationen und Behandlungen ohne Peer-Beratung

Das Gesetz sieht eine obligatorische Peer-to-Peer-Beratung weder für die familiengerichtliche Genehmigung noch für die Überprüfung und Feststellung der Einwilligungsfähigkeit des Kindes vor. Aufgrund fehlender Erfahrungen und Peer-Kontakten ist es vielen intergeschlechtlichen Minderjährigen oftmals nicht möglich, sich ein Leben außerhalb binärer Geschlechtermodelle vorzustellen.

Wir fordern daher die Einführung einer obligatorischen Peer-Beratung sowohl für das familiengerichtliche Genehmigungsverfahren als auch für die Überprüfung und Feststellung der Einsichtsfähigkeit des betroffenen Kindes. Eine solche Einführung könnte zudem flankiert werden durch die Normierung eines eigenständigen Anspruches auf (Peer-)Beratung und psychosoziale Betreuung durch unabhängige Stellen sowohl für Eltern als auch für betroffene Kinder.

  • Einrichtung eines bundesweiten zentralen Registers zur Erfassung aller an Minderjährigen vorgenommener genitalverändernder Eingriffe

Obgleich das Gesetz eine Evaluierungszeit von fünf Jahren statuiert, sind keine Regelungen vorgesehen, die eine regelmäßige bundesweite, zentrale und transparente Erfassung von genitalverändernden Eingriffen an Minderjährigen normieren. So fehlt es weiterhin an einer verlässlichen und transparenten Datenlage, die für künftige Anpassungen der Gesetzeslage herangezogen werden könnte und zudem die Schutzwirkung des Gesetzes für die Betroffenen erhöht. Zudem soll ein Zentralregister den Betroffenen helfen, wenn sie größer geworden oder bereits erwachsen sind und die Geschichte ihrer geschlechtsbezogenen medizinischen Behandlungen nachvollziehen wollen, Zugang zu allen medizinischen Fallakten an einer Adresse zu erhalten.

Wir fordern daher die Einführung eines bundesweiten zentralen Registers für alle durchgeführten genitalverändernden Operationen und medikamentösen oder sonstigen Behandlungen, die eine Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes zur Folge haben können.

  • Keine Umgehung des Verbots durch Vornahme von Eingriffen bzw. Behandlungen im Ausland

Es muss sichergestellt werden, dass die nach § 1631e BGB-E verbotenen medizinischen Behandlungen nicht im Ausland durchgeführt werden. Dazu ist es erforderlich, strafrechtlich relevante Verstöße gegen § 1631e BGB-E in den Katalog der in Deutschland verfolgbaren Auslandsstraftaten des § 5 StGB aufzunehmen, wie dies zum Beispiel für den Straftatbestand der Verstümmelung weiblicher Genitalien (§ 226a StGB) passiert ist.

Wir fordern daher, den Straftatenkatalog des § 5 StGB zum Schutz vor rechtswidrigen genitalverändernden Eingriffen und Behandlungen zu ergänzen.

  • Verlängerung der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verjährungsfristen

Das Gesetz sieht keine Änderung der geltenden Verjährungsbestimmungen vor, sodass sowohl die strafrechtliche Verfolgung eines gemäß §§ 223 ff. StGB i.V.m. § 1631e BGB-E rechtswidrigen Eingriffs als auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gemäß §§ 823 ff. BGB i.V.m. § 1631e BGB-E in zu kurzer Zeit verjährt sein können. Danach bringt eine verlängerte Aufbewahrung der Patientenakten für die ehemals minderjährige Person, an der der rechtswidrige Eingriff vorgenommen wurde, nur noch die Möglichkeit der Kenntnisnahme zu den Umständen der rechtswidrigen Handlung und den daran Beteiligten. Diese können nicht mehr rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Wir fordern daher, die strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verjährungsregelungen und die Aufbewahrungsfristen für Gerichtsakten anzupassen, um sie mit dem Ziel des Gesetzes, vor rechtswidrigen Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung zu schützen, in Einklang zu bringen.

  • Interdisziplinäre Kommission

Nach dem Gesetz soll eine interdisziplinäre Kommission zur Einwilligung in operative Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen Stellung nehmen. Allerdings stellen sich in diesem Kontext mehrere Fragen, auf die im Gesetzentwurf keine Antworten zu finden sind, was die Praktikabilität dieser Lösung in Frage stellt. Es ist völlig unklar, wie und von wem die Kommission zusammengesetzt werden sollte und wer dafür die Kosten tragen soll. Auch das Prozedere der Erarbeitung einer Stellungnahme wird nicht geregelt. Ferner bleiben die Fragen der Haftungspflichten der Mitglieder völlig offen. Daher bedarf es einer gesetzlichen Konkretisierung bezüglich der Kommission und der Klarstellung, dass die Kosten dafür der Staat und nicht die Eltern tragen sollen. Außerdem soll die Vorlage der Stellungnahme der Kommission im familiengerichtlichen Verfahren verpflichtend sein.

Wir fordern daher eine gesetzliche Konkretisierung bezüglich der Kommission und die Klarstellung der staatlichen Kostenübernahme.

Dirk Adams

Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz Thüringen

Dirk Behrendt

Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Berlin

Sülmez Dogan

Rechtspolitische Sprecherin

Bürgerschaftsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bremen

Anna Gallina

Senatorin für Justiz und Verbraucherschutz Hamburg

Katja Keul

Sprecherin für Rechtspolitik

Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Renate Künast

Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Katja Meier

Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung Sachsen

Astrid Rothe-Beinlich

Fraktionsvorsitzende

Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen

Toni Schuberl

Rechtspolitischer Sprecher

Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bayern

Petra Vandrey

Rechtspolitische Sprecherin

Abgeordnetenhausfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berlin

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld

Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden. Weiteres entnehmen Sie bitte der Datenschutzerklärung.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Verwandte Artikel