Warum wir Grenzen überwinden und einander anerkennen sollten – egal, woher wir kommen…

Ich bin hier verwurzelt. Geboren 1973 in Leipzig, seit 1984 in Erfurt lebend. Nicht immer habe ich mich wirklich Zuhause gefühlt. Schon gar nicht politisch. Begriffe wie Heimat oder gar Nation waren und sind mir fremd – vermutlich auch, weil sie ideologisch überfrachtet wurden und werden.

Damals anders als heute, wo man von sog. Leitkulturdebatten spricht. Nichts habe ich dafür getan, erst als Bürgerin der DDR und jetzt als „deutsch“ zu gelten. Auch deshalb konnte und kann ich weder stolz auf „meine Heimat DDR“ noch aufs Deutschsein in der Bundesrepublik sein. Und doch hat mich mein Aufwachsen mehr geprägt als ich mir manchmal eingestehe– die Umstände, meine Familie und erst recht das, was man Sozialisation nennt. Ich bin im Bewusstsein um tödliche Grenzen groß geworden – tödlich für viele, die die DDR verlassen wollten, weil sie es hier einfach nicht mehr ausgehalten haben. Vielleicht bin ich auch deshalb zu der Überzeugung gelangt, dass es immer und überall sichere Fluchtwege braucht. Das unglaubliche Privileg, mich frei bewegen zu können, zu sagen was ich denke und mich politisch zu engagieren, verdanke ich der friedlichen Revolution und all denen, die mutig die Ohnmacht überwunden und mit Kerzen in der Hand für Freiheit gestritten haben. Mich hat diese Umbruchszeit für mein Leben geprägt.

Als Pfarrerstochter in der DDR genoss ich den Schutz einer Kirche, die sich nicht vordergründig als Institution, sondern vielmehr als Freiraum verstand. Ich hatte Eltern, die mich in meinem Engagement bestärkten und die zu mir standen. Und ich hatte das Glück, eben Dank friedlicher Revolution doch noch zum Abitur zu kommen und mein Leben frei zu gestalten. Auch deshalb verwahre ich mich auch aufs Schärfste gegen den Missbrauch genau dieser Erfahrung durch Rechtspopulisten, die angelehnt an Krenz`s  Sprech vollmundig „Vollende die Wende“ krakeelen oder von Diktatur schwadronieren. Widerspruch muss eben auch selbst Widerspruch ertragen und Demokratie tatsächlich erfahrbar sein und jeden Tag aufs Neue verteidigt werden – auch und gerade, wenn es wehtut. Streiten haben wir Ossis leider nicht alle gelernt, schon gar nicht, Streit als etwas Positives und Voranbringendes zu begreifen.

Mich hat geprägt, schon frühzeitig zwischen den Zeilen lesen zu lernen. Ich wusste um Kleingeistigkeit und Bespitzelung, auch wenn mir die Ausmaße erst später bewusst worden. Ich habe die kleine Freiheit unserer Sommerferien als Wasserwanderer unterwegs auf der Mecklenburgischen Seenplatte genossen, mit Zelt und wilden Gesängen am Lagerfeuer – immer darauf bedacht, nicht erwischt zu werden. Und ja, mich verbinden mit anderen in der DDR groß Gewordenen natürlich Erlebnisse, Zwänge, Mangelerfahrungen, aber eben auch das Wissen um kleine Freuden. Mit „zwangskollektivierenden Maßnahmen“ kann man mich bis heute genauso jagen wie mit Mainelken oder geschwenkten Fahnen.

Ich habe den Geruch von Braunkohle noch genauso in der Nase wie den Duft der Soljanka oder das Bohnerwachs aus der Turnhalle. Und auch mich nervt mitunter, wenn mancher aus dem Westen meint, den Ossis noch immer erklären zu müssen, wie es eigentlich war oder ist. Ich hatte 1989 tatsächlich die Vision einer basisdemokratischen und weltoffenen DDR und fand mich in einem Nachbau West wieder, bei dem leider versäumt wurde zu fragen, ob angelehnt an die Revolution in der DDR nicht wenigstens etwas Bewegung und Abschied von alten Zöpfen im Westen ebenfalls angebracht gewesen wäre. Ein gemeinsamer verfassungsgebender Prozess hätte da vielleicht Brücken bauen und Gräben überwinden können.

Und so fremdle ich auch heute – bei aller Freiheit – mal mehr mal weniger mit diesem Land, in dem inzwischen längst unsere Kinder groß geworden und unsere Enkel geboren sind, ohne die eigene Erfahrung der Teilung oder heute auch Spaltung, die immer noch nachwirkt.

Astrid Rothe-Beinlich

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